Das Wort Daten hat in der Welt von Kunst und Kultur noch einen fremden Klang. Dabei sind sich Daten und Kreativität längst begegnet. Das wird unsere Sicht auf Kunst und Kunstgeschichte absehbar verändern – sofern die Welt der Daten sich öffnen darf.
Den Begriff Daten gibt es nur in der Mehrzahl. Das hat einen guten Grund. Daten sind nur in größeren Mengen sinnvoll. Erst en masse werden Daten analysierbar, man kann Gleichheiten, Unterschiede, Entwicklungen und Muster herauslesen. Man kann sie neu aufbereiten, anders arrangieren und verknüpfen – und so zumindest neue Fragen aufwerfen oder gar neue Erkenntnisse gewinnen. Eine grundlegende Voraussetzung für diesen ebenso technischen wie kreativen Prozess ist, dass Daten überhaupt vorhanden und zugänglich sind.
Bildrechte: Münchner Stadtbibliothek / Monacensia
„Offene Daten, offene Köpfe“, sagt Stefanie Schneider. Man könnte das durchaus als Postulat verstehen. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) befasst sich mit „Cultural Analytics“, mit digitaler Kunstgeschichte und Forschungsdatenmanagement. Dingen also, auf die vermutlich nicht wenige Kunsthistoriker hinabblicken wie Caspar David Friedrichs Wanderer auf das Nebelmeer. Seit Schneider und ihre vier Kollegen – Osman Cakir, Linus Kohl, Alexandra Reißer und Julian Schulz – den Hackathon „Coding da Vinci Süd“ im vergangenen Sommer gewonnen haben und mit ihrer Online-Web-Applikation „Schmankerl Time Machine“ auf riesiges öffentliches Interesse gestoßen sind, hoffen sie, dass der Nebel hier und dort aufgerissen ist.
Ausgangsbasis für diese Arbeit war ein offener Datensatz der Monacensia. Die Forschungsbibliothek für Münchner Kulturgeschichte hatte Speisekarten Münchner Gaststätten der letzten 150 Jahre digitalisiert – und dem Hackathon zur kreativen Verwertung zur Verfügung gestellt. Das Team von Schneider sah das Potenzial der Daten sofort. „Jeder kann was mit Essen anfangen“, sagt Schneider. Mit der Schmankerl Time Machine kann man die historischen Speisekarten einsehen, sein persönliches „Schmankerl“ zusammenstellen und durch eine Verknüpfung mit der Plattform „chefkoch.de“ sogar nachkochen.
Der Hackathon ist eine gute und in vielen Fällen auch die einzige Gelegenheit, um mit offenen Daten im Kunst- und Kulturbereich kreativ zu spielen. Denn auch wenn viele Häuser, wie die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen zum Beispiel, ihre Bestände soweit möglich digitalisiert und übers Netz zugänglich gemacht haben, steckt die Digitalisierung im Vergleich zum angelsächsischen Raum oder den Niederlanden hierzulande noch in den Kinderschuhen. Die Skepsis vieler Kollegen kann Schneider nicht nachvollziehen. Was soll denn schon passieren?
Der Name sagt es schon: Der Hackathon „Coding da Vinci“ verbindet die Welt der Kunst und Kultur mit digitaler Technik. Das verbindende Element sind offene Kulturdaten. Die Grafiker, Gamer, Entwickler, Künstler und Wissenschaftler aller Bereiche können durch „Coding da Vinci“ zeigen, welches kreative Potenzial in ihnen und offenen Daten stecken kann. Im vergangenen Jahr wurde der Kultur-Hackathon das erste Mal auch in Süddeutschland ausgerichtet. Die Veranstaltung zieht sich über mehrere Wochen und fand an verschiedenen Orten statt. Dr. Kathrin Zimmer, Koordinatorin der ZD.B-Themenplattform Digitalisierung in Bildung, Wissenschaft und Kultur, ist eine der beiden Projektleiterinnen des Hackathon Coding da Vinci Süd. Das ZD.B. ist zusammen mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, dem Bayerischen Filmzentrum, Code for München, dem Deutschen Museum, .dhmuc, Games Bavaria, dem Goethe-Institut, der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern, der MFG Baden-Württemberg, der Münchner Stadtbibliothek Veranstalter des Kreativevents.
Für Hubertus Kohle, Kunsthistoriker an der LMU und Experte für digitale Kunstgeschichte, liegt, was die Digitalisierung seines Faches betrifft, noch einiges im Argen. Er erwartet nicht weniger als eine kommende Revolution. Das streng hierarchisierte System wird zugänglicher werden, die Institutionen offener werden müssen, glaubt er. Das Prinzip von „open access“ betrifft die Rezeption genauso wie die Vermittlung von Kunst. „Frontalunterricht“ im wörtlichen und übertragenen Sinne wird seiner Meinung so nicht mehr lange möglich sein.
„Hierarchie und lineare Kommunikation passen eben nicht zum interaktiven Wesen der Digitalisierung“, weiß Kohle. Das Publikum wird mitreden wollen, während die Experten, Kunstverlage und Spezialisten nolens volens von ihrem Ross heruntersteigen müssen. Bestenfalls werden sogar die Mauern zwischen Kulturräumen niedergehen. „Schließlich ist Digitalisierung die beste Entwicklungshilfe“, sagt Kohle. Er gerät regelrecht ins Schwärmen, wenn es um digitale Öffnung des Systems geht. Was für die einen eine Dystopie ist, ist für ihn Utopie, die seiner Einschätzung nach auch durchaus bald Realität werden könnte: „Der Geist weht, wo er will.“
„Lasst uns die Wissens-Silos niederreißen!“
Aber auch in der Forschung wird sich einiges tun. An seinem Lehrstuhl arbeiten sie momentan an einem Tool zur automatisierten Bildanalyse. So soll es schon bald möglich sein, anhand formaler und ikonografischer Kriterien zu analysieren, auf welchem Kunstwerk zum Beispiel der heilige Andreas zu sehen ist. Kohle sieht in dieser Art von künstlicher Intelligenz keine Bedrohung, sondern bestenfalls Zeitersparnis. Voraussetzung auch hier wieder: Die Daten müssen erstens vorhanden und zweitens offen zugänglich sein. Die Ouvertüre der Zukunftsmusik spielt also schon, im Hauptsatz wird dann nach Schätzung von Kohle wohl nach ganz anderen Regeln komponiert werden. Welches Erkenntnispotenzial steckt allein in der Vernetzung offener Datenbestände verschiedener akademischer Fachrichtungen! Hubertus Kohle für seinen Teil ist zu allem bereit: „Lasst uns die Wissens-Silos niederreißen!“
Aber trotz aller Lust auf Revolution soll die Digitalisierung auch nicht ihre Kinder fressen. „Wie man mit digitalen Möglichkeiten verfahren will, das sollte man nicht zwischen Tür und Angel entscheiden“, sagt Kohle. Der Meinung ist auch Bernhard Maaz, Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. Vergangenen Herbst hat das Haus als eines der wenigen Museen in Deutschland eine digitale Strategie veröffentlicht. Dass diese nicht der Weisheit letzter Schluss ist, liegt in der Natur der Sache: „Digitalisierung ist ein neues Werkzeug, das wie alle anderen auch immer wieder nachgeschliffen werden muss“, sagt Maaz. Und so gesehen gewissermaßen ein Kunstwerk in Progress.